Von Hare-Niemeyer über d'Hondt zu Lague-Schepers
von Klaus-Michael Becker
Es wurden in der Literatur bislang zahlreiche Versuche unternommen, die verschiedensten Verfahren zur Berechnung von ganzzahligen Mandatsverteilungen zu begründen und herzuleiten. Daß die Proportional-Darstellung ein geeignetes Hilfsmittel bietet, wurde dabei kaum gewürdigt. Im folgenden zeigen wir, daß die Proportional-Darstellung nahezu spielerisch die Verfahren Hare-Niemeyer, d'Hondt und Lague-Schepers entdecken, auf erstaunlich einfache Art begründen und herleiten läßt.
1 Wir betrachten exemplarisch ein vier ParteienParlament bestehend aus (S =) 520 Abgeordneten. Partei 1 stellt (a1 =) 255 Abgeordnete, Partei 2 (a2 =) 202, Partei 3 (a3 =) 35 und Partei 4 (a4 =) 28. Es soll nun ein Ausschuß aus (M = ) 12 Mitgliedern proporzgerecht gebildet werden. Partei 1 erhält (q1 =) 12 . 255/520 Mitgliederanteile, Partei 2 (q2 =) 12 . 202/520, Partei 3 (q3 =) 12· 35/520 und Partei 4 (q4 =) 12· 28/520. Wir notieren die vier Ausdrücke als Verhältnisse und erhalten: q1/255 = 12/520, q2/202 = 12/520, q3/35 = 12/520, q4/28 = 12/520. Diese Verhältnisse veranschaulichen wir mit Hilfe des Strahlensatzes (Abb.l).
Die ganzzahligen Mitgliederanteile haben wir durch Kreuze hervorgehoben. Vom jeweils obersten Kreuz bis hin zur Hypotenuse können wir die entsprechenden Reste ablesen. Da bislang insgesamt 9 Kreuze erfaßt wurden, müssen wir ein Verfahren finden, mit dem wir drei weitere Kreuze einfangen können, damit die vorgegebene Zahl von 12 Ausschußmitgliedern erreicht wird.
Mit Verfahren 1 wählen wir die drei oberhalb der Hypotenuse ihr am nächsten gelegenen Punkte, was wir graphisch durch Parallelverschiebung erreichen können (Abb. 2). Die oberhalb der Hypotenuse am nächsten gelegenen Punkte resultieren von den Mitgliederanteilen mit den größten Resten. Wir können ein Rechenschema zu Verfahren 1 zweistufig notieren:
Dies ist das Hare-Niemeyer-Verfahren (Hamilton Method in der amerikanischen Literatur). Schließen wir den trivialen Fall (sämtliche Reste sind 0) aus, so liegen (auch bei jeder anderen Verteilung der Parlamentarier) unterhalb der Hypotenuse höchstens 11 Kreuze. Wir wählen deshalb eine Hypotenuse durch 13, da unterhalb dieser dann höchstens 12 Kreuze liegen können. Haben wir auf diese Weise 12 Kreuze eingefangen, so sind wir fertig. Andernfalls gehen wir über zu einer Hypotenuse durch 14. Da unterhalb dieser Hypotenuse zwar höchstens aber immerhin 13 Kreuze liegen können, könnten wir bereits zuviele Kreuze eingefangen haben. Es liegt nahe, dieses diskrete Verfahren zu einem kontinuierlichen umzufunktionieren.
2 Mit Verfahren 2 finden wir die drei restlichen Kreuze, indem wir die Hypotenuse um den Strahlenursprung drehen und dabei die überstrichenen Punkte in ihrer Reihenfolge fixieren (Abb. 3).
Um zu einer Rechenvorschrift für Verfahren 2 zu gelangen, lassen wir den sich drehenden Strahl bereits waagerecht beginnen. Das untere Kreuz der Partei 1 wird dann als erstes eingefangen, dann folgt das untere Kreuz der Partei 2 usw. Die Reihenfolge des Einfangens hängt offensichtlich nur von der Steigung ab, die das jeweilige rechtwinklige Dreieck besitzt. Wir notieren deshalb die Steigungswerte zu sämtlichen Punkten in einer Tabelle:
Die Auswahl der 12 geringsten Steigungswerte führt unmittelbar zur Lösung unseres Problems.
Betrachten wir die Kehrwerte sämtlicher Steigungswerte, so führt die Auswahl der höchsten reziproken Steigungswerte zu derselben Lösung. Wir notieren das Rechenschema zu Verfahren 2 analog der letzten Darstellung (In Klammern ist die Reihenfolge der Auswahl abzulesen.).
Dies ist das d'Hondtsche-Höchstzahlverfahren (Gefferson-Method in der amerika-nischen Literatur). Wird Verfahren 1 (Hare-Niemeyer) durch die Parallelverschiebung von einer Proportionaldarstellung eher entfernt, so bleibt Verfahren 2 (d'Hondt) dem Proporz durch den Drehstrahl zumindest äußerlich treu. Dennoch wird das Verfahren 1 in der Regel als gerechter empfunden.
3 Mit Blick auf die Standardrundung versuchen wir, einen Komprorniß zwischen dem rest-optimalen Verfahren 1 und dem proporz-erhaltenden Verfahren 2 zu erreichen. Da sämtliche Restwerte statistisch gemittelt 0,5 betragen, wird im statistischen Mittel in
Verfahren 1 eine Parallele um 0,5 Einheiten verschoben werden müssen. Diese Parallele können wir aber ebenso durch einen Drehstrahl erreichen, der seinen Drehpunkt um 0,5 Einheiten oberhalb des Strahlenursprungs besitzt (Abb. 4).
Mit Verfahren 3 finden wir die relevanten Kreuze, indem wir den sich drehenden Strahl bereits waagerecht beginnen lassen. Das untere Kreuz der Partei 1 wird dann als erstes eingefangen (Abb. 5), dann folgt das untere Kreuz der Partei 2 usw. Analog zu Verfahren 2 notieren wir die Steigungswerte zu sämtlichenPunkten:
so führt die Auswahl der 12 höchsten reziproken Steigungswerte zur Lösung unseres Problems. Wir notieren das Rechenschema zu Verfahren 3 analog der letzten Darstellung (In Klammern ist die Reihenfolge der Auswahl abzulesen.).
Dies ist das Lague-Schepers-Verfahren (WebsterMethod in der amerikanischen Literatur).
Mit Hilfe der Proportionaldarstellung lassen sich auch weitere in der
Literatur (wie zum Beispiel in [1] oder [3]) betrachtete Verfahren
herleiten.
Ebenso lassen sich leicht Genauigkeitsmaße und Bedingungen an Wahlverfahren (wie zum Beispiel in [4]) diskutieren. Daß dies alles mit Hilfe der Proportionaldarstellung möglich ist, wird in [2] gezeigt.
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, daß die in diesem Artikel verwendeten Daten vom 10. Deutschen Bundestag (1983) stammen.
Literatur
[1] M. L. BALINSKI - H. P. YOUNG: Fair Representation. London: Yale University 1982.
[2] K.-M. BECKER: Mathematik der Mandatsberechnung. Ennepetal: Schrift des Reichenbach-Gymnasiums 1989.
[3] K. KOPFERMANN: Wahlverfahren. - Hannover: Bericht Nr. 81 des Math. Inst. der TU 1978.
[4] K. SCHICK: Wahlberechnungsverfahren. - PM 28 (1986) 81 - 118.
(Erschienen ist dieser Artikel in der Zeitschrift MNU 45/1, 1992)